Wiederentdeckung des ersten Viertakt-Atmosphärenmotors
Auf der Messe Auto e Moto d’Epoca 2025 im ASI Village, Halle 25, haben Besucher erstmals eine funktionstüchtige Rekonstruktion des historischen Barsanti-Matteucci-Motors live vorgeführt bekommen. Dieses Exponat markiert den Auftakt einer längst überfälligen Neubewertung der Pionierarbeit, die Eugenio Barsanti und Felice Matteucci ab 1853 in Lucca leisteten.
Historischer Hintergrund: Italienischer Vorsprung vor Otto
Während der Name Nikolaus Otto heute gemeinhin als Erfinder des Verbrennungsmotors gilt, reichten Barsanti und Matteucci bereits 1853 bei der Akademie der Georgofili und dem Ximenischen Observatorium in Florenz ihren Entwurf ein. Der Prototyp entstand neun Jahre vor Ottos deutschem Patent (1876) in der Gießerei Benini in Lucca.
- Erstvorstellung: 11. Januar 2025 im Museo Galileo, Florenz
- Entwicklungszeitraum: 1853–1862, reine Forschungs- und Prototypphase
- Aktuelles Projekt: Über 5.000 Arbeitsstunden für die filologische Rekonstruktion
Grundprinzip: Drei Taktschritte ohne Kompression
Der Barsanti-Matteucci-Motor arbeitet nach dem gravi-atmosphärischen Dreitaktverfahren mit verzögerter Aktion („differita“). Die Abfolge der Takte unterscheidet sich grundlegend von späteren Viertaktmotoren:
- Aspirazione (Ansaugen): Ein Gemisch aus „Beleuchtungs-Gas“ (hauptsächlich Wasserstoff und Methan) strömt in den Zylinder.
- Scoppio (Explosion): Eine Zündung durch den Ruhmkorff-Induktor löst die Detonation aus.
- Svuotamento (Ausstoßen): Im Gegensatz zur modernen Expansionskraft erfolgt die Energiegewinnung durch die Abwärtsbewegung des Kolbens unter Schwerkraft und Abkühlung.
Mechanische Umsetzung: Rack-and-Pinion und Schwungrad
Nach der Zündung bewegt sich der Kolben zunächst nach oben. Die Rückkehr nach unten erzeugt die eigentliche Antriebskraft:
- Verzahnte Zahnstange (Rack) am Kolben
- Zahnrad (Pinion) am Schwungrad
- Direkte Kraftübertragung ohne Pleuelstange
Dieses System verringert mechanische Verluste und entspricht dem damaligen Stand der Metallbearbeitung.
Zündtechnik: Der Ruhmkorff-Induktor
Die sicher erforderliche hohe Zündspannung lieferten die zeitgenössischen Ruhmkorff-Induktoren. Sie bestehen aus:
- Eisenkern mit primärer Spule
- Sekundärwicklung für Hochspannung
- Funkenstrecke zur präzisen Zündung des Gasgemischs
Dank dieses Zündsystems konnte die Flammenfront das Gemisch zuverlässig und wiederholbar entzünden – ein Meilenstein für Experimente mit gasbetriebenen Motoren.
Rekonstruktion durch den Club Moto d’Epoca Fiorentino
2022 initiierte der federführende Club Moto d’Epoca Fiorentino in Kooperation mit dem Automotoclub Storico Italiano (ASI) ein Projekt zur originalgetreuen Nachbildung:
- Archivforschung: Originalzeichnungen und Notizen in florentinischen Archiven
- Kollaboration mit historischen Werkstätten: Fertigung der Bauteile in traditioneller Handarbeit
- Technische Validierung: Vergleichsmessungen mit digitalisierten Schemaprototypen
ASI Village: Zentrum für historisches Kulturgut
Das ASI Village in Halle 25 erstreckt sich über 2.500 m² und versammelt mehr als 20 regionale Clubs. Höhepunkte des Rahmenprogramms sind:
- Verleihung des ASI-Preises für Motorismo Storico 2025 an Miki Biasion und Giovanni Tombolato
- FIVA Heritage Hall of Fame Ernennung für Flaminio Bertoni
- Fachvorträge zum nachhaltigen Tourismus mit ANCI und Città dei Motori
- Präsentationen historischer Rennboliden: Alfa Romeo 184T, Lancia Delta S4 und ikonische Nachkriegs-Motorräder
Ausstellungshighlights und Besucherprogramm
Neben dem Barsanti-Matteucci-Motor geben Exponate aus der Welt des Rennsports und der Straßenzulassung Einblick in die technische Evolution:
- Original-Formel-1-Chassis der Alfa Romeo 184T
- Gruppen-B-Sonderserie Lancia Delta S4
- Markante Motorräder aus der Ära der Wiederaufbaujahre
- Themenführungen und Live-Demonstrationen am Barsanti-Modell
Interessierte Fachleute und Automobilenthusiasten können an Workshops zur Motorkonstruktion und Restaurierung teilnehmen.
Bedeutung für die Automobilgeschichte
Die Enthüllung der Barsanti-Matteucci-Rekonstruktion korrigiert weit verbreitete Irrtümer über den Ursprung des Verbrennungsmotors. Sie unterstreicht:
- Die Rolle Italiens als Innovationsstandort im 19. Jahrhundert
- Den Einfluss geistiger Pioniere auf moderne Antriebstechnologien
- Den Wert sorgfältiger historischer Forschung für künftige Mobilitätslösungen
Elmer, Ihr Korrespondent aus München, lädt alle Technik- und Geschichte-Liebhaber ein, dieses Kapitel der Automobilgeschichte selbst zu erleben und den italienischen Erfindergeist hautnah zu spüren.